Die indische Gesangskunst macht besonders deutlich, welche zwei Charakteristika die klassische indische Musik auszeichnen:
Zum einen ist sie modal und hält wie die europäische Bordunmusik an einem Grundton fest; es gibt keinen Tonartenwechsel.
Zum anderen ist sie
vokal konzipiert: Auch die reine Instrumentalmusik lässt stets erkennen,
dass die menschliche Stimme als Vorbild gedient hat. Auch wenn ein Instrumentalmusiker keine geübte Stimme hat und kein ausgebildeter Sänger ist,
so sollte er all das, was er durch seine Improvisationen zum Ausdruck bringen
möchte, leise mitsingen können, denn das erleichtert ihm das Improvisieren.
Während der Instrumentalist zuerst die Technik seines Instrumentes erlernt, kann der Sänger den direktesten Weg gehen und seine inneren Gefühle zum Ausdruck zu
bringen. Selbstverständlich ist auch dazu langjährige Ausbildung unerlässlich, so z.B.
für die Atmungstechnik der sog. Gamak-Improvisationen.
Gamak oder Gamaka(m) sind bestimmte Verzierungen in der klassischen indischen Musik, die einen Raga eine bestimmte Charakteristik verleihen. Es ist für jeden Raga genau festgelegt, welche Arten von Gamakas auf bestimmte Noten angewandt oder auch nicht angewandt werden dürfen. Der Raga selbst ist eine melodische Grundstruktur, eine Art „Klangpersönlichkeit“, die wiederum
zu einer feststehenden Tonskala zugeordnet ist, ähnlich wie die westlichen Kirchentonarten.
Zu den Gamaks gehören Veränderungen in der Tonhöhe (engl. pitch), bei denen heftig zwischen benachbarten und entfernten Tönen oszilliert wird.
Die Anzahl der Gamaks wurden von verschiedenen Kommentatoren indischer Musik mal auf fünfzehn (Sarangadeva), auf neunzehn (Narada) oder auf sieben (Haripala) angegeben.
In der nordindischen oder hindustanischen Musik sind die Gamaks ähnlich dem meend (Hindi: मींड), einem Glissando von einer Note zur anderen (bei bundierten Saiteninstrumenten durch ein Drücken der Saite gegen den Bund reaslisiert, ähnlich dem portamento und Fingervibrato), und dem andolan (Hindi: अंदोलन). Andolan ist ein sanftes Oszillieren um eine Note, bei der die Umgebung des benachbarten Tones ebenso berührt wird wie die Shrutis dazwischen. (Erklärung für Shruti: Die Tonleitern der westlichen Musik benutzen maximal 12 Töne pro Oktave. Die indische Musik orientiert sich dagegen an den Shrutis (Mikrotönen), die eine Oktave in 22 Schritte unterteilen. Pro verwendeter Skala (Tonleiter) gibt es 7 Haupttöne, sogenannte Svaras.) Welche Noten (andolit svars) für andolan benutzt werden, hängt vom Raga ab.
Beim indischen Gesang werden schnelle Tonfolgen mit der Hand gestisch verdeutlicht. Dies ist nicht nur
für das Publikum faszinierend anzusehen, sondern hat auch für den Sänger eine sehr
wichtige Bedeutung. Sämtliche Töne der drei üblicherweise erreichbaren Oktaven sind nämlich je einem
bestimmten Körperpunkt zugeordnet:
Die untere Oktave reicht von den Zehen bis
zum Nabel. Am Nabel findet sich auch der Grundton, von dem der Künstler bei seinen
Improvisationen ausgeht. Dieser Grundton ist dem Orgelpunkt in der westlichen Musik gleichzusetzen.
Die mittlere Oktave reicht vom Nabel bis hin zum sog. spirituellen Auge (welches oberhalb der Schläfen verortet ist). In der mittleren Oktave befinden
sich neben dem Grundton die zwei nächst wichtigsten Noten, nämlich die Quarte auf Höhe des Brustbeins, sowie die Quinte, die der Herzgegend zugeordnet ist.
Die dritte und obere Oktave umfasst den Raum vom
spirituellen Auge bis hin zum Scheitelpunkt.
Der menschliche Körper weist somit an vier Stellen den Grundton auf verschiedenen Oktaven auf: An Zehe, am Nabel (Ausgangspunkt), am spirituellen
Auge und am Scheitelpunkt.
Wenn Musik von Noten gespielt wird, so hört der Musiker in der
Regel den Ton erst dann, wenn er ihn gerade anspielt oder singt. Bei der
Improvisationsmusik jedoch ist es wichtig, dass der Musiker die Noten, die nach der "jetzt" gespielten Note erklingen sollen, "jetzt"
schon fühlt. Folglich sollte er seinem musikalischen Denken immer einige
Sekunden voraus sein. Entsprechend sind die Handgestiken wichtig, da der Musiker durch seine Gestik die Note mittels Körpernähe anzeigt, in welcher Oktave seine Stimme sich gerade befindet, während er mit seiner inneren, mentalen Stimme schon
einige Töne weiter ist. So lässt sich auch das Obertonsingen erklären, bei dem mit der Stimme die Frequenz einer Note festgehalten wird, während der Sänger mit der mentalen Stimme gleichzeitig eine oder auch mehrere Noten darüber liegen kann.
Musik, die unter diesen Gesichtspunkten entsteht, setzt nach innen
gerichtetes und kontemplatives Musikdenken voraus.